Ein verzweifelter Versuch diesen Wahnsinn aus der Geschichte heraus zu verstehen.
Ich wurde 1946, kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs, geboren. Die Welt hatten sich die Siegermächte aufgeteilt. Nachdem Nazideutschland den Krieg verloren hatte, dauerte es nicht lange bis die Sowjetunion der neue Feind der westlichen Welt geworden war. Die Russen hatten mit 60 Millionen weitaus am meisten Tote zu beklagen. Bis zum Fall der Berliner Mauer 1989 waren West- u Osteuropa getrennt durch den sogenannten Eisernen Vorhang. Wir lebten im «Kalten Krieg». Der NATO, dem westlichen Militärbündnis, inklusive die USA, standen die «Warschauer Paktstaaten», inklusive die Sowjetunion gegenüber.
Wir Schweizer blieben neutral, aber, wie ich es in meiner Militärdienstzeit erlebt hatte, waren in den militärischen «Übungen» stets die Roten, also die Russen, unsere Feinde. Wir gehörten und gehören zum «Freien Westen». Wer mit diesem Feindbilddenken nicht einverstanden war, dem sagte man damals noch schnell, er solle doch nach Moskau, wenn es ihm hier nicht passe.
Die Angst vor den Russen war begründet. Als ich 1956 zehn Jahre alt war, mussten wir in der Schule für die Ungarn aufstehen und drei Minuten lang still sein. Damit zeigten auch wir Schweizer, dass wir den Einmarsch der Russen in Ungarn, die mit ihren Soldaten und Panzern den Aufstand blutig niedergewalzt hatten, verurteilten. Die ungarischen Helden, welche die stalinistische Regierung zum Teufel gejagt hatten und ein neutrales Ungarn forderten, Imre Nagy und Pal Maléter, wurden von den Sowjets hingerichtet. Die westlichen Staaten griffen nicht ein, sie hielten sich an die von Churchill, Roosevelt und Stalin im Februar 1945 in Jalta, einem Badeort auf der Krim, vereinbarten Interessensphären, wonach Ungarn zum sowjetischen Einflussbereich gehörte.
Auch zwölf Jahre später kam die NATO den Tschechoslowaken, die sich gegen die Sowjets erhoben hatten und einen eigenen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz», den dritten Weg, wollten, nicht zu Hilfe. Wieder rollten die Sowjets, zusammen mit ihren sogenannten Brüderstaaten, mit ihren Panzern ins Land und beendeten den Aufstand. Dubcek, der Chef der tschechischen Kommunisten, Staatspräsident Svoboda und Cernik, der Ministerpräsident, welchen ein liberaler Kommunismus vorschwebte, wurden in die Sowjetunion verschleppt und gezwungen, die Reformen zurück zu nehmen. Auch hier installierten die Sowjets eine moskautreue Regierung. Ich fuhr damals mit meiner Lambretta, auf die ich die drei Namen der Helden des Prager Frühlings gesprayt hatte, an die Demo gegen die Russen nach Bern. Tschäppät Senior hat dort in einer Rede auf dem Bundesplatz seiner Empörung über den russischen Einmarsch lautstark Ausdruck gegeben.
Und immer wurde das Eingreifen, der Einmarsch mit Panzern, der Einsatz von Bomben und Raketen mit irgendeiner Lüge begründet, nämlich so, wie das Hitler bereits 1939 beim Überfall auf Polen gemacht hatte. Es ging und geht dabei immer um Macht und Einfluss, oder auch um Bodenschätze, um Öl etc. Das ist bei den Russen so, und ist z.B. auch bei den Amerikanern nie anders gewesen. Und es geht immer auch um die Angst der Mächtigen, Macht zu verlieren.
Dass sich in der Ukraine jetzt etwas wiederholt, wie damals in Ungarn und in der Tschechoslowakei, das ist für die Menschen die dort leben, sich wehren, und flüchten müssen, grauenhaft. Und für uns, auch wenn wir Bilder von dort im TV sehen und auch wenn wir Ukrainer im Radio hören, bleibt es hier in der warmen Schweizer Stube unvorstellbar.
Ich bin 76 Jahre alt und habe gottseidank nie einen Krieg erlebt. Dass jetzt auch in Europa nach all dem Leid, das der 2.Weltkrieg verursacht hat, wieder ein Land überfallen wird, das kann ich nicht verstehen. Die Ukrainer haben ihren jungen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit 75% der Stimmen gewählt. Er ist, ausserhalb von Israel, der erste jüdische Präsident der Welt, seine Heimatsprache ist russisch. Und er sagt, was damals auch die Ungarn und die Tschechen gesagt haben: Die Russen verstehen uns nicht.
Und wir verstehen die Russen nicht – jene dort im Kreml, die diesen Krieg begonnen haben, schon gar nicht.
Tinu Heiniger am 3. März 2022